Völkermord in Ruanda

Außerhalb Afrikas werden Konflikte und Kriege auf dem schwarzen Kontinent in der Regel als Stammeskonflikte und Stammeskriege dargestellt, bei denen es um archaische Auseinandersetzungen zwischen primitiven Völkern oder Gruppen gehe; Tabus, Magie, Blutrache und andere Rituale würden dabei mitspielen. Kriege in der europäischen Geschichte seien auf einer anderen, materielleren und geistigeren Ebene anzusiedeln; bei ihnen gehe es um regionale Vorherrschaft, konkrete materielle Interessen oder um religiöse oder andere ideologische Ziele. Hinter solchen Vorstellungen liegt die Überzeugung, afrikanische Völker seien in ihrem Entwicklungsprozeß auf dem Stadium der Stammesbildung stehengeblieben, und an ihrer Spitze stünden mächtige Stammeshäuptlinge, die mit magischen Kräften ausgestattet seien und denen die Bevölkerung absolute Unterwerfung schulde; der Zusammenhalt der Gruppe basiere auf der gemeinsamen Abstammung, und ihre Identität leite sich aus dem durch Verwandtschaft, magisches Wissen, gemeinsame Kultur und Geschichte erwachsenen Substrat ab. Für gesellschaftliche Konflikte, ideologische Auseinandersetzungen oder Wettstreit um Führungspositionen gebe es in diesen Gruppen keinen Platz, weil das Alter, die Nähe zum Gründerahn und die Tradition jedem seinen Platz zuweise. In dieser Grundordnung ruhten auch das Wertesystem und die gesellschaftlichen Verhaltensvorschriften: alles sei angelegt, das Überleben der Gemeinschaft zu sichern. Vor diesem Hintergrund kann ein Konflikt zwischen solchen Gemeinschaften von außenstehenden Beobachtern in der Tat so gedeutet werden, als gehe es primär um das Überleben des Stammes und die magische Kraft der Gruppe, auch wenn in Wirklichkeit um Land, Wasser oder andere Ressourcen gerungen wird. Am Anfang des Bemühens um die historische Erklärung von afrikanischen Konflikten muß daher die Einsicht stehen, daß afrikanische Gesellschaften keine in sich homogenen Stämme bilden, daß sie vielmehr in aller Regel zu multikulturellen Völkern zusammengewachsen sind, mit unterschiedlichen Gruppen, Interessen, Sprachen und Kulturen, wie die Völker anderer Kontinente. Auseinandersetzungen, Konflikte und Kriege in Afrika haben ebenso vergleichbare Ursachenkomplexe: das Streben nach Macht, politischer oder ideologischer Vorherrschaft, Reichtum und materiellen Ressourcen. Sie sind auch nicht in statischen Strukturen und Denkformen erstarrt, sondern sehen sich ständigem Wandel ausgesetzt, reagieren darauf, passen sich an und versuchen, die Umwelt umzugestalten. Wenn man im üblichen Sprachgebrauch von ‘Völkern’ spricht, meint man kulturell eng verbundene Gemeinschaften, die durch eine gemeinsame Sprache und Geschichte zusammengewachsen sind. Unter ‘Nationen’ versteht man Völker, die politisch geeint in einem Staatswesen zusammenleben. Als ‘Stämme’ bezeichnet man Gemeinschaften, die durch verwandtschaftliche Bande unter einem Nachfolger des Gründervaters, einem Häuptling, geeint sind und über bestimmte magische Kräfte verfügen. Vom Stammesbegriff in seiner englischen und französischen Form, ‘tribe’ oder ‘tribu’, abgeleitet, spricht man auch von ‘tribalen’ Strukturen, wenn man die Organisationsform dieser Gruppen meint, und von ‘Tribalismus’, wenn man die politische Haltung anspricht, die bestimmte Merkmale eines Stammes betont und sie zu politischer Mobilisierung nutzen will. Weil der Stammesbegriff problematisch ist und die Wirklichkeit nicht widergibt, versuchen viele Forscher, im afrikanischen Kontext von ‘Ethnien’ zu sprechen. Sie meinen damit Gemeinschaften, die aus vielerlei Strömungen und Einzelgruppen zusammengewachsen sind und im Laufe der Zeit zahlreiche kulturelle Gemeinsamkeiten entwickelt haben. Der Ausdruck ‘Ethnie’ bleibt aber weitgehend auf den afrikanischen Kontinent beschränkt; auf Europa findet er keine Anwendung, weil man mit ihm Entwicklungen in der vorindustriellen Welt assoziiert. ‘Ethnizität’ ist das Bewußtsein, einer bestimmten ‘Ethnie’ anzugehören, oder der Wille, sich damit zu identifizieren und vom Anderen abzugrenzen. Mit ‘Ethnisierung’ will man den Bewußtseinsprozeß beschreiben, der sich auf ‘ethnische’ Merkmale beruft und sie zu Zwecken der Politisierung der Gruppe nutzt. Weder ein Volk noch eine Ethnie sind also von der Natur oder der Abstammung vorgegebene und unveränderliche Größen; sie sind im Laufe einer langen Entwicklung entstanden und bleiben ständigen Veränderungen unterworfen, sowohl in der Zusammensetzung, die sich durch Wanderungen verschieben kann, als auch im Selbstverständnis, das wechselnde Interessen und Loyalitäten ausdrücken kann. Unter ‘Völkermord’ versteht man den Mord an Gruppen, die ethnisch definiert sind; Völkermord geschieht, wenn solche Gruppen, solche Völker, ausgemerzt werden sollen. Der Völkermord in Ruanda ist im Westen als unverständlicher und plötzlicher Rückfall in die Barbarei von Stammeskriegen gedeutet worden. Daß er kein plötzlicher Ausbruch war, sondern eine lange Vorbereitungszeit gekannt hat, weiß man inzwischen; daß er allerdings im sehr kurzen Zeitraum von wenig mehr als drei Monaten, zwischen April und Juni 1994, so viele Menschenleben gefordert hat und deshalb sehr viele Täter gehabt hat und daß an seiner Basis ein unmeßbarer Grad an Entschlossenheit zum Kampf ums Leben oder zum Ausrotten des Andern gelegen haben muß, das bleibt schwer verständlich. Im Falle des Völkermordes in Ruanda kommt noch hinzu, daß die beiden Bevölkerungsgruppen, die Hutu und Tutsi genannt werden, eine gemeinsame Geschichte, eine gemeinsame Religion und Sprache haben und daß es auch sehr schwer ist, in ihrer Geschichte vor dem 20. Jh. gravierende Unterschiede und Bewußtseinsformen aufzuspüren, die man eindeutig als ethnisch bezeichnen könnte. Vielleicht haben viele europäische Beobachter des Völkermordes auch deshalb von atavistischen Stammeskriegen gesprochen. Die Bezeichnungen ‘Hutu’, ‘Tutsi’ und ‘Twa’ waren bis zum Ende des 19. Jahrhunderts keine Namen mit festen Bedeutungen und erst recht keine Begriffe, die eine ethnische Zugehörigkeit und damit eine Aufteilung der Gesellschaft in ethnische Gruppen ausgedrückt hätten. Sie waren vielmehr fließend und brachten vor allem soziale und politische Inhalte zum Ausdruck. ‘Hutu’ zu sein, bedeutete, vorwiegend Ackerbauer zu sein, das Wort ‘Tutsi’ besagte, vor allem von der Viehzucht zu leben und reicher zu sein. Wenn es die Bezeichnung ‘Twa’ damals schon gab, bezog sie sich auf die Menschen, die vorwiegend vom Jagen und Sammeln lebten. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts erfolgte nun im Zuge der Ausbreitung des Herrschaftsgebietes von König Rwabugiri eine Politisierung der Beziehungen zwischen den unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen; so wurden die Tutsi-Viehzüchter mit der Nähe zum Könighof, also mit der politischen Macht, in Verbindung gesetzt. Diese Verengung der Begriffe ist in der Kolonialzeit konsequent weitergeführt worden, und aus sozialen Kategorien wurden immer eindeutiger ethnische; so entstanden schließlich in den Vorstellungen der Kolonialbeamten und in der Wirklichkeit unterschiedliche Ethnien oder Völker, die Hutu, die Tutsi und die Twa, mit eigenem ethnischen Bewußtsein. Und am Ende der Kolonialzeit standen sich zwei Bevölkerungsblöcke feindlich gegenüber, zahlenmäßig sehr ungleich im Verhältnis von etwa 80 % Hutu zu 15 % Tutsi; die restlichen 5 %, die sogenannten Twa, spielten in diesem Machtkampf keine Rolle. Diese ethnischen Identitäten waren in den Personalpapieren vermerkt und waren festgeschrieben. Sie waren zur Basis für die Stellung in Staat und Gesellschaft geworden und hatten im Laufe der Jahre ein ausgeprägten ethnisches Bewußtsein geschaffen, das sich an der Benachteiligung bzw. Bevormundung im kolonialen System orientierte. Die ethnische Definition der beiden Gruppen war also in der Kolonialzeit geschaffen und aufgebaut worden; sie explodierte vor der Unabhängigkeit in der Revolution von 1959, in der die Hutu unter den Vorzeichen einer demokratischen Neugestaltung die Tutsi-Monarchie und die Vorherrschaft der Tutsi abschafften. Wenn man Licht in den Völkermord in Ruanda bringen will, muß man seine Vorgeschichte offenlegen. Dazu möchte diese Studien einen Beitrag leisten. Sie steht vor der Tatsache, daß sich heute in Ruanda und Burundi, aber auch im Osten des ehemaligen Zaïre, zwei ethnisch definierte und sich als solche verstehende Gruppen in tödlicher Feindschaft gegenüberstehen. Dieser Konflikt ist aber kein natürlicher, angeborener, über Jahrhundere schwelender Konflikt zwischen fest definierten Gruppen; er hat sich vielmehr erst seit dem Ende des 19. Jh. zusammengebraut und aus mehr oder weniger friedlich zusammenlebenden Menschengruppen Feinde gemacht. Die Täter in diesem Völkermord, jene, die an der Planung und Durchführung beteiligt waren, Regierungskreise, Mitglieder der herrschenden Schicht, radikalisierte Gruppen, unzählige Mitläufer und Verführte, haben im übrigen nicht nur die Tutsi zur Zielscheibe genommen, sondern auch Oppositionelle jedweder ethnischen Zugehörigkeit, auch gemäßigte Hutu. Die Studie geht davon aus, daß es sich nicht um einen Stammeskrieg handelte sondern um einen Machtkampf um Leben und Tod, der mit der Revolution von 1959 begonnen hatte und an der Frage aufgehängt wurde, wer im modernen Staat Ruanda das Staatsvolk darstellen, wie sich dieses Staatsvolk definieren sollte und welche Konsequenzen zur Verteilung von Macht und Ressourcen daraus abzuleiten seien.. Die herrschende Schicht innerhalb Regierung und Partei hat auf dem Höhepunkt dieses Machtkampfes als letztem Mittel zur Ausrottung der Gegner gegriffen. Dabei hat sie den politischen Kampf in ethnischen Kategorien umgedeutet und unter diesem Motto die Identität der Hutu als Staatsvolk neu definiert. Davon wurden alle ausgeschlossen, die nicht hinter ihrem Machtanspruch standen. Sie wurden als Feinde des Staates und der Volkes angesehen. Dieser Prozeß ist nicht in wenigen Monaten oder Jahren abgelaufen, er stellt keine plötzliche Eruption dar, mit der niemand gerechnet hätte. Kritische Beobachter hatten seit Jahren vor einem mörderischen Ausbruch gewarnt. Seit der Vorbereitungszeit der völkerrechtlichen Unabhängigkeit, seti etwa 1955, hatten sich in Ruanda politische Parteien mit eindeutig radikal ethnischen Merkmalen und Zielsetzungen, ja bewußten Ausgrenzungen gebildet, die die politische Macht ausschließlich für ihre Gruppe beanspruchten. Die Revolution von 1959 und die sporadischen Massaker an Tutsi in den Folgejahren waren ein überdeutliches Zeichen für eine außergewöhnliche Aufladung der Spannungen zwischen den Bevölkerungsgruppen, die sich seit Etablierung der Kolonialherrschaft um die Jahrhundertwende aufgebaut hatten und die durch ähnliche Entwicklungen im Nachbarstaat Burundi geschürt wurden. Massaker an Tutsi und Hutu in Ruanda und Burundi hatten Ängste und Feindschaften aufgebaut und jeweils zur politischen Ausschließung des anderen Volkes geführt. Die Zielsetzung dieser Studie ist es, aufklären zu helfen. Wir möchten nicht nur die Ergebnisse einer wissenschaftlichen Arbeit über Ruanda und den Völkermord präsentieren; es soll mehr erreicht werden: durch kritische Information über das Geschehen auf das politische Bewußtsein einzuwirken. Dazu möchten wir aufdecken, wie und warum es zu diesem Völkermord gekommen ist; wo seine historischen Wurzeln liegen; welche Interessen und Gruppen in der Vorgeschichte des Völkermordes gegeneinander aufgebaut worden sind, welche Argumente zu ihrer Identitätsstiftung und ihren mörderischen Konsequenzen verwandt worden sind; wer dafür verantwortlich ist, wer die Täter, wer die Agitatoren waren, wie die Masse der Bevölkerung zu Tätern werden konnte; wo Konflikte außer Kontrolle geraten sind, wer in seiner Aufgabe zur Konfliktlösung versagt hat, auf nationaler und internationaler Ebene. Über diese Einzelfragen und den Fall Ruanda hinaus sollen die Mechanismen erkundet werden, die bei der Politisierung von Ethnien und bei dem Umschlagen von Politisierung in Völkermord operativ geworden sind.